2020 Die Ukraine ist Gastland beim FünfSeenlandFilmFestival

Der Film sollte eigentlich in den 1980er-Jahren spielen, nun ist er aber in der Gegenwart gelandet

Nina (Marina Koshkina) würde gern umziehen, doch ihr Mann Jurij (Vasilij Kuharskij) will in der russisch besetzten Stadt Luhansk bleiben. Foto: Verleih/FSFF

Gegen das Vergessen

Daria Onyshchenkos Politdrama „The Forgotten“ feiert Deutschlandpremiere. Es zeigt das Leben in besetzten Gebieten der Ost-Ukraine

Starnberg – Es ist Winter. Eine hautfarbene Wachsskulptur einer nackten Frau steht starr im tiefen Schnee. Die Ruhe der Szene wird durch einen lauten Schuss in ihre Brust durchbrochen. Es folgen weitere Schüsse und weitere Skulpturen, die wie eine Armee verteilt stehen. Der Schütze: Eine Frau in Militäranzug.

Diese Szene leitet Daria Onyshchenkos Film „The Forgotten“ am Dienstagabend im Kino Starnberg ein. Das Politdrama wird im Anschluss an den Empfang der Ukraine gezeigt und beschäftigt sich mit der Bevölkerung in Gebieten der Ost-Ukraine, die von prorussischen Separatisten kontrolliert werden. Der russisch-ukrainische Konflikt über die Abspaltung von Donezk, Luhansk und der Halbinsel Krim existiert seit 2014, wird aber im Westen wenig thematisiert. In Onyshchenkos Gesprächen mit Geflüchteten fiel immer wieder der Satz „Wir fühlen uns vergessen.“ Das will sie mit ihrem Film ändern.

Nina ist eine Ukrainischlehrerin, die mit ihrem Mann Jurij in der russisch besetzen Stadt Luhansk lebt. Während Jurij in der Gesellschaft integriert ist, eckt Nina an, weil sie den Oligarchen Tums ablehnt. Sie würde gern zurück in das Gebiet der ukrainischen Regierung, doch Jurij (dargestellt von Vasilij Kuharskij) will bleiben.

In der Schule trifft Nina auf den 17-jährigen Andrej, der als Zeichen des Widerstands eine ukrainische Flagge auf dem Schulgebäude hisst. Sie hilft ihm, sich vor dem Militär zu verstecken. Während des Films entfernt sich Nina mehr und mehr von ihrem Mann und nähert sich Andrej an. Der Schüler sei wie „frische Luft“ für sie in der erstickenden Unterdrückung der russischen Besetzung, sagt Onyshchenko in der Nachbesprechung mit Festivalleiter Matthias Helwig.

Der Film ist ein voller Erfolg beim Publikum. Viele Zuschauer fragen die Regisseurin zu Symbolen, Drehorten oder Schauspielern. Ursprünglich sollte der Film in den achtziger Jahren spielen. Angesichts der Ereignisse, beschloss Onyshchenko allerdings den Plot in die Gegenwart zu verlegen. Wegen des zu hohen Risikos in Luhansk, drehten sie in Kiew und Umgebung sowie in unbesetzten Teilen des Ostens. Die Schauspieler habe sie in einem „langen Prozess“ ausgewählt, erklärt die Filmemacherin. Ninas Darstellerin Marina Koshkina stammt aus Luhansk und konnte sich leicht mit ihrer Rolle identifizieren. Andrejs Schauspieler Daniil Kamenskij kommt aus Kiew. Ihm fiel die Rolle anfangs schwer. Die beiden Städte sind zwar im selben Land, in Kiew spürt die Bevölkerung laut Onyshchenko aber nicht viel von den Missständen.

Onyshchenko ist selbst in Kiew geboren und lebt seit zehn Jahren in München, wo sie an der Hochschule für Film und Fernsehen studiert hat. In München hat sie die Künstlerin Maria Kulikovska kennengelernt, die die Skulpturen der Anfangsszene gebildet hat. Ihre Skulpturen wurden 2014 während einer Ausstellung in Donezk zerstört. Seitdem gilt sie in der Ukraine als verbotene Künstlerin und ist nach Deutschland geflüchtet. Die Skulpturen ziehen sich durch den Film als Symbol für Freiheit, Glaube und Hoffnung. Carolin Echterbeck


Psychogramm eines Krieges

„The Earth Is Blue as an Orange“ thematisiert Alltag in der Ukraine

Gauting – Schutt auf den Straßen, nächtliches Aufschrecken, um im Handylicht die weggefetzte Hälfte des Nachbarhauses zu erahnen, Zusammenkauern im engen Keller vor den Einmachgläsern – der Krieg ist präsent im ukrainisch-litauischen Dokumentarfilm „The Earth Is Blue as an Orange“. Und doch bleibt dieser seit 2014 im Donbass immer wieder brutal aufflammende Konflikt seltsam vage. Man erfährt nicht, um was es geht, weniger als 1000 Kilometer entfernt. Das thematisiert auch Myroslava nicht, die mit ihrer Schwester Nastja, den beiden kleinen Brüdern und Mutter Anna im Zentrum des Films steht. Die Familie verdeutlicht vielmehr, was dieser Krieg mit jedem von ihnen macht und wie sie sich immer wieder Bruchstücke eines normalen Alltags sichern.

Die Dokumentation aus dem Jahr 2020 ist ein Beitrag aus dem diesjährigen Gastland Ukraine beim Fünfseen-Filmfestival. Buch und Regie stammen von der ukrainischen Autorin und Regisseurin Iryna Tsilyk. Die 33-Jährige studierte an der Nationalen Universität für Theater, Kinematografie und Fernsehen in Kiew. Weltpremiere hatte ihr Film beim diesjährigen Sundance Film Festival, wo er auch gleich einen Preis gewann. Bei den Internationalen Filmfestspielen in Berlin und beim DOK.fest München lief er ebenfalls. Iryna Tsilyk schreibt auch Gedichte. Ihren Filmtitel übernahm sie aus einer Zeile des französischen Surrealisten-Dichters Paul Eluard aus dem Jahr 1929. Der absurd anmutende Widerspruch darin – er trifft haargenau das reale Leben der Protagonisten. „Krieg ist, wenn Leute schießen. Und andere Leute schießen auf die Leute, die zuerst geschossen haben“, erklärt Myroslavas kleiner Bruder. Für die junge Frau bedeutet der Krieg Leere: „Das Wasserreservoir ist leer, die Freunde sind weg, der Wald ist weg.“ Dagegen setzt sie etwas Produktives, Konstruktives: Sie dreht mit ihrer Familie einen Film. Das Zuhause samt Katzen, Schildkröte und Hausmusik, der Schulabschluss, bei dem die Freundinnen mit Abendkleid und Hochsteckfrisur vor Fassaden voller Einschusslöchern posieren, das Schlangestehen im Schlamm, Geburtstagsfest, Weihnachten. Emotionalster Moment: Banges Warten und unbändige Freude, als Myroslava an der Filmhochschule angenommen wird. Der Fokus liegt auf den Frauen. Männer kommen nur einmal vor, als Soldaten auf einem Panzer durch leere Winterstraßen der Kleinstadt rollen und im Hof eines Wohnblocks einer Frau Tabletten für deren kranken Sohn reichen. Wie sich herausstellt eine nachgestellte Szene für den Film im Film. Diese Konstruktion ist bisweilen verwirrend. Was ist echt? Was Fiktion? Zumal man fix sein muss, um den englischen Untertiteln zu folgen. Gleichzeitig gewährt sie Anna und ihren Kindern ein Stück Distanz und die Möglichkeit zur Selbstreflexion. Eindrücklich, was nach 74 Minuten beim Abspann zu hören ist: Akkordeonklänge, Kinderstimmen – und dumpf grollender Geschützdonner.

„The Earth Is Blue as an Orange“ konkurriert mit sechs weiteren Filmen um den mit 3000 Euro dotierten Dokumentarfilmpreis des Festivals.Manuela Warkocz

„Krieg ist, wenn Leute schießen.“ Der Film im Film schafft Distanz zum Alltag und gibt Raum für Reflektion.Foto: fsff/oh

 

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