2022 SZ Man sieht uns heute anders

„Man sieht uns heute anders“

Seit Jahrhunderten untergräbt Russland Kultur, Sprache und Selbstbewusstsein der Ukrainer. Aber ist ihnen die Freiheit jetzt noch zu nehmen? Eine Videokonferenz mit den Autoren Juri Andruchowytsch, Natalka Sniadanko und Jurko Prochasko

Interview: Felix Stephan
SZ 15.03.2022

Noch fahren die Straßenbahnen, noch öffnen die Supermärkte, nur die Apotheken sind schon leer. Die Lage im Westen der Ukraine ist zum Zeitpunkt dieser Videokonferenz noch vergleichsweise ruhig. Es haben sich zugeschaltet: der bekannteste Dichter der Ukraine, Juri Andruchowytsch, aus seinem Arbeitszimmer in Iwano-Frankiwsk, der Germanist und Psychoanalytiker Jurko Prochasko aus Lemberg, die Schriftstellerin Natalka Sniadanko aus Budapest. Sie war gerade in Krakau, als Russland ihr Heimatland überfiel; in ihrer eigenen Wohnung wohnen jetzt Flüchtlinge. Alle drei arbeiten unermüdlich in diesen Tagen, geben Interviews, halten Reden, organisieren im In- und Ausland Unterkünfte für fliehende Ukrainer. Natalka Sniadanko wird am Nachmittag nach diesem Gespräch noch mit polnischen und türkischen Medien sprechen. In Budapest, erzählt sie, habe sie eine Frau kennen gelernt, die ihre AirBnB-Wohnungen afrikanischen und asiatischen Flüchtlingen überlasse, die in Polen nicht über die Grenze durften. Auf diese Weise entstehen neue Netzwerke. Allein in Jurko Prochaskos Lemberger Wohnung sind zum Zeitpunkt dieses Gespräches zehn Binnenflüchtlinge untergebracht.

SZ: Die ganze Welt staunt dieser Tage über die Resilienz der Ukrainer, über ihre Fähigkeit, sich spontan zu organisieren und Übermenschliches zu leisten. Ist diese enorm selbstbewusste Zivilgesellschaft eine Folge der Maidan-Revolution von 2014?

Juri Andruchowytsch: Die Entwicklung ging früher los, eigentlich schon in der Ukraine unter Leonid Kutschma. Bei den Protesten von 2001 hat sich der russische Präsident zum ersten Mal brutal in die ukrainische Politik eingemischt. Da waren wir schon zehn Jahre unabhängig und unser Status als Nation wurde auch von niemandem bestritten. Aber schon da offenbarte Putin seinen Appetit, die Ukraine zu kontrollieren. Seitdem hat er hier nur Niederlagen und Misserfolge erlebt: die Proteste von 2004, der Euromaidan von 2014. Er wurde so häufig von der Ukraine beleidigt und verletzt, dass sein Hass auf uns heute grenzenlos ist.

Jurko Prochasko: Die ukrainische Gesellschaft hat sich in dieser Zeit große Qualifikationen des Zusammenhaltes und der Kooperation erworben. Diese Proteste haben in der Ukraine das Bewusstsein einer Zivilgesellschaft geschult, die zwar sehr pluralistisch ist, aber auch solidarisch und konsolidiert genug, um sich mobilisieren und im Notfall verteidigen zu können. Ich sehe das als ein und denselben Prozess, der seit zwanzig Jahren andauert.

Wolodimir Selenskij sagte in einer seiner Ansprachen, die Ukrainer wüssten sehr genau, was sie in diesem Krieg verteidigen. Erklären Sie uns, was er damit meint?

Prochasko: Wir kämpfen dagegen, uns wieder einmal in dieser unerträglichen, großrussischen, messianistischen, arroganten, brutalen Despotie wiederzufinden, die es in so vielen Ausformungen von Zar Nikolai über Stalin zu Putin gegeben hat, und die eine sehr, sehr tief sitzende kollektive Erinnerung der Ukrainer ist.

Natalka Sniadalko: Wir kämpfen um unsere Zukunft. Wir wollen nicht, dass unsere Kinder dieselben Entscheidungen treffen müssen, die wir zu treffen gezwungen waren. Da geht es nicht nur um Ukraine gegen Russland, es geht auch um die Ukraine selbst. Immer wieder wurde darüber diskutiert, ob die Ukraine eine Nation sei oder nicht. Jetzt zeigt sich: Alle kämpfen intuitiv für ihr Land, die Intellektuellen genauso wie die Fabrikarbeiter. Genau darin konstituiert sich die politische Nation. Dass wir schon so weit sind, erstaunt mich selbst. Vielleicht zeigt das auch, dass es keine Frage mehr ist, ob wir gewinnen oder verlieren. Die Ukrainer haben sich schon befreit, dahinter können wir nicht mehr zurück.

Die Ambition und der Möglichkeitssinn des demokratischen Aufbruchs in der Ukraine haben nicht nur Putin gedemütigt, sondern immer wieder auch die EU beschämt. Wie haben Sie das gemacht?

Andruchowytsch: Die ukrainische Gesellschaft repräsentiert eine fundamental andere politische Kultur als Russland – wobei ich nicht einmal sicher bin, ob es in Russland so etwas wie eine Gesellschaft überhaupt noch gibt. Von dem, was sich in den Neunzigern relativ frei entwickeln konnte, sind nur noch Scherben übrig. Oppositionelle sind im Ausland oder im Gefängnis. Die Ukraine ist das Gegenteil davon. Sie ist ein Land, in dem die Gesellschaft viel aktiver und progressiver ist als die Machthaber und die Politik entscheidend gestaltet. Manchmal ist sie passiver, aber in Momenten wie diesem wird es sehr sichtbar, wie viel Initiative die Leute hier haben. So etwas darf es in Russland nicht geben.

In dem Sammelband „Euromaidan“ (Suhrkamp, 2014) schreiben Sie, Herr Prochasko, den schönen Satz: „Die ukrainische Revolution treibt die EU zur Verzweiflung über sich selbst.“ Wie war der gemeint?

Prochasko: Man sieht uns heute anders an, das ist deutlich zu spüren. Und indem man uns anders sieht, sieht man sich selbst auch anders. Den westeuropäischen Gesellschaften ist jetzt klar geworden, dass es nicht nur die Ukrainer betrifft, wenn unsere Identität von einer Großmacht infrage gestellt wird, sondern dass dieser Angriff auch ihnen gilt. Das war 2014 noch nicht so und ich glaube, das mobilisiert die westlich von uns gelegenen Gesellschaften sehr viel stärker. Auf einmal wissen auch die westlichen Gesellschaften, wofür sie zu kämpfen bereit wären.

Andruchowytsch: Ich bin nicht so optimistisch. Die Politiker sehen uns heute anders an, ja, und viele Journalisten und Intellektuellen auch. Aber für die allgemeine Öffentlichkeit sind wir noch immer weit weg. Das Wissen darum, wofür die Ukraine steht und warum sie sich in der Lage befindet, in der wir uns jetzt befinden, setzt sich nur sehr langsam durch. Was aber wirklich neu ist: All die Celebritys unterstützen auf einmal die Ukraine. Für einen Bewusstseinswandel in der allgemeinen Öffentlichkeit ist das vielleicht am wirksamsten.

Sniadanko: Lange dachten die meisten Westeuropäer vor allem an Korruption und Oligarchen, wenn sie von der Ukraine hörten. Das ändert sich nur sehr langsam. Dass die westlichen Öffentlichkeiten jetzt spontan so empathisch reagieren, zeigt, wie weit wir gekommen sind. Und das wird bleiben. Vielen ist jetzt bewusst geworden, dass die Ukraine ein europäisches Land ist.

Prochasko: Jetzt da der Putinismus sein innerstes Wesen offenbart hat, können die Westeuropäer zum ersten Mal spüren, was wir Ukrainer schon sehr, sehr lange zu spüren bekommen. Sie verstehen zum ersten Mal, wie viel Hass, Verachtung und Auslöschungsgelüste vom Putinismus ausgehen. Vielleicht kommt die Solidarität daher: Zum ersten Mal kann man sich in unserer Haut fühlen. Jetzt ist ihnen klar geworden: Putin würde genauso gern, genauso genüsslich und genauso lustvoll, wie er jetzt die ukrainische Zivilisation auszulöschen versucht, die gesamte westliche Zivilisation auslöschen.

Frau Sniadanko, Sie haben einen Roman geschrieben über den Erzherzog Wilhelm von Habsburg, der 1918 König einer unabhängigen Ukraine werden will. Denken Sie heute öfter an das Buch zurück als sonst?

Sniadanko: Das Muster der Gewalt ist genau dasselbe. Der Erzherzog war kein Ukrainer, er war nicht einmal eine wichtige politische Figur. Einfach ein Habsburger, der Männer liebte und sich aus romantischen Gründen die ukrainische Identität übergestreift und monarchische Ansprüche angemeldet hat. Aber am Ende wurde er in einem sowjetischen Gefängnis brutal vernichtet. Dieses Muster sehen wir heute wieder jeden Tag im Fernsehen. Es geht bei dieser Brutalität nicht um strategische Ziele. Es geht allein um Gewalt, eine Gewalt gegen alle und jeden. Es ist ganz gleich, ob man ihr zufällig über den Weg läuft oder tatsächlich gegen das System arbeitet: Man wird vernichtet, einfach dafür, dass man sich unterscheidet. Und wenn wir nicht dagegenhalten, wird es nie aufhören.

Prochasko: Was jetzt versucht wird, ist wirklich die Endlösung der ukrainischen Frage für das großrussische Imperium.

Joseph Roth hat im Berlin des Jahres 1920 einmal eine „Ukrainomanie“ festgestellt: In allen Varietés würden auf einmal ukrainische Tänze aufgeführt, auch weil die Ukrainer eines jener Völker seien, Zitat, „von denen man nicht bestimmt sagen kann, ob sie nur Menschenfresser oder gar auch Analphabeten sind“ ...

Prochasko: Joseph Roth kann das schreiben, weil er als Galizier beide Register beherrscht. Er ist ja von hier. Er kann dem Publikum in Wien und Berlin das Wilde vorführen, er kennt aber auch Lemberg und die Ukrainer wie kein Zweiter. Zu unseren Problemen gehört, dass es genau solche Intellektuellen heute kaum mehr gibt.

Hundert Jahre vor Roth wurde auf der anderen Seite, im imperialen Sankt Petersburg, der Ukrainer Nikolai Gogol mit seinen ukrainischen Erzählungen auf ähnliche Weise zum Star. Die Ukraine, so scheint es, wird in Ost und West gleichermaßen als urtümliche Wildnis inszeniert. Ist das seit dem 24. Februar 2022 endgültig vorbei?

Andruchowytsch: Russland hat die Ukraine erst in den 1770er-Jahren vollständig kolonisiert, unter Katharina der Großen. Erst da begann das Verhältnis von Moskauer Zentrum und Kiewer Kolonie. Gogol war ein russischer Untertan erst in der zweiten Generation, sein Großvater war noch ein freier Adeliger. Dieses putinistische Geschichtsbild, in dem die Ukraine und Russland schon immer eins waren, ist einfach falsch, aber er benötigt die Legende, um seine Übergriffe zu legitimieren. Er ist in der Ukraine weiter gegangen als Lenin und Stalin, darin offenbart sich sein Selbstbild: Er beruft sich auf die Zaren, die die Ukraine tatsächlich nie anerkannt haben. Um 1860 kursierten in Moskau offizielle Dokumente über die ukrainische Sprache. Darin hieß es: „Es gab nie eine ukrainische Sprache, es gibt sie heute nicht und es wird sie nie geben.“

Sniadanko: Die Sprachpolitik ist ein ganz klassisches Instrument, um gegen die Ukraine vorzugehen. Man fälscht die Vergangenheit, um die Zukunft fälschen zu können. Vor 300 Jahren wurden die ersten Gesetze im russischen Reich entworfen, die die ukrainische Sprache verboten, seitdem wird uns gesagt: Die ukrainische Sprache existiert nicht, die ukrainische Kultur hat es nie gegeben, die Ukrainer sind nur verwirrte Russen. In der UdSSR wurden die wichtigen Bücher nur ins Russische übersetzt, auf Ukrainisch brauche man das nicht, hieß es. Nach 1990 hieß es dann, man könne die Hollywoodfilme nicht auf Ukrainisch synchronisieren, weil die Sprache unterentwickelt sei und altmodisch klinge. Dieser Versuch, unser Selbstwertgefühl zu unterminieren, ist jahrhundertealt. Es wird eine erzwungene Ähnlichkeit zwischen Russland und der Ukraine hergestellt, die es nie gab. Als Ukrainer versteht man das Polnische und Tschechische viel besser als das Russische.

Prochasko: Seit neun Jahren beschäftigt mich die Frage, wieso der Putinismus auf so viel Verständnis auch in westlichen Gesellschaften trifft. Was verrät das über die Beschaffenheit dieser Gesellschaften? 2014 ist es mir klar geworden, als die Solidarität und die Begeisterung für die Maidan-Revolution im Westen weitgehend ausblieb. Es gab sehr viel Bereitschaft, uns die Schuld für das Chaos zu geben. Ich glaube, der latente Antidemokratismus ist in den westlichen Gesellschaften noch sehr verbreitet.

Entschuldigung?

Prochasko: Ich meine die eigene verdrängte imperiale Lust. Man kann sich noch immer sehr gut mit einer Großmacht identifizieren, die endlich mit Gewalt Ordnung schafft. Man möchte selbst Vertreter einer solchen imperialen Großmacht sein, um genauso handeln zu können. Das ist der Hauptquell der Sympathie. Das Großrussentum, das mit dem Putinismus untrennbar verbunden ist, ist eher für das heimische Publikum bestimmt; dieses Durcheinander historischer Mythen, Panslawismus, völkischen Mystizismus’ versteht im Westen fast niemand. Was die Leute im Westen aber sehr gut verstehen, ist das Machtgefühl, zu einer Großmacht zu gehören und in ihrem Namen sprechen, denken, fühlen und handeln zu dürfen. Und wie geil es ist, wenn man sich als Vertreter dieser Großmacht ermächtigt fühlt, alles zu machen, was man will.

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