2021 Bayreuther Festspiele Besuch bei Oksana Lyniv

Dienstag, 20. Juli 2021, Starnberger Merkur / Kultur & Leben


„Es kann nur um Qualität gehen“

BAYREUTHER FESTSPIELE - Besuch bei Oksana Lyniv, der ersten Dirigentin am Grünen Hügel


VON MARKUS THIEL


Eigentlich wohnt sie am falschen Gewässer. Vater Rhein ist hier sehr gemütlich unterwegs. In einer breiten Schleife wälzt er sich vorbei an der Düsseldorfer Altstadt. In den breiten Auen flanieren Fußgänger oder sind Radler unterwegs. Knapp 200 Meter sind es von hier zu Oksana Lynivs Wohnung im Stadtteil Oberkassel gegenüber des Zentrums. Und dort, im Zimmer mit Blick in den kleinen Garten, herrscht Sturmwarnung. Das betrifft weniger die freundliche Besitzerin, die Kräutertee und Kuchen serviert, sondern das Arbeitsmaterial.

Auf dem Boden stapeln sich die roten Partiturbände des „Fliegenden Holländers“. Obenauf „Aus den Memoiren des Herren von Schnabelewopski“ von Heinrich Heine. Das Buch inspirierte Richard Wagner zu seinem Musikdrama, das an Norwegens umtoster Küste spielt. Man muss sich Oksana Lyniv vorstellen als eine Künstlerin, die – literarisch gesehen – gerade alles in sich hineinfuttert, was mit dem „Holländer“ zu tun hat. So hat sie es auch bei anderen Werken gehalten, doch jetzt ist Ernst- und Ausnahmefall: Die 43-jährige Ukrainerin ist die erste Frau im Graben des Bayreuther Festspielhauses. Premiere der auch deshalb weltweit beachteten Neuproduktion ist am 25. Juli.

Eine „mystische Erfahrung“ sei ihr erster Bayreuth-Besuch gewesen. Einige Jahre ist das her, als sie eine „Walküre“ mit Kirill Petrenko hörte. Es war jener Sommer, in dem sie der spätere Generalmusikdirektor der Bayerischen Staatsoper zu seiner Assistentin machte. Und dies, obwohl Oksana Lyniv bereits stellvertretende Chefdirigentin in Odessa war.

„Sie als Westeuropäer können, so glaube ich, nicht ganz spüren, was es heißt, in der Ukraine aufzuwachsen und dort in diesen Beruf zu starten“, erklärt Lyniv ihrem Gegenüber den vermeintlichen Rückschritt. „Wenn man dieses Land verlässt, ist das nicht wie ein simpler Grenzübertritt, sondern das Eintauchen in eine andere Kulturlandschaft.“ Nach dem Ersten Weltkrieg gab es zum Beispiel in Lemberg kein Wagner- und Strauss-Repertoire mehr. Was bedeutete: Lyniv hörte sich daheim Schallplatten mit Stücken in einer fremden Sprache an und begann sie zu studieren. Gleichzeitig war ihr klar: Wenn sie diese großen Schinken live kennenlernen möchte, dann muss sie weg.

„Meine erste Produktion, bei der ich Kirill Petrenko assistieren durfte, war ,Die Frau ohne Schatten‘ von Strauss“, erzählt sie. „Ich sah und hörte das Werk zum ersten Mal live. Mir war überhaupt nicht klar, wie man es realisieren und zusammenbringen kann.“ Alles lernte sie nun neu, dirigierte in München die Bühnenmusik der „Frau ohne Schatten“, ebenfalls die in Schostakowitschs „Lady Macbeth von Mzensk“ und durfte bald auch im Nationaltheater ans Pult.

Dass für Oksana Lyniv die Zeit an der Bayerischen Staatsoper zum Sprungbrett wurde, ist bekannt. Stuttgart, Wien und Barcelona wurden auf sie aufmerksam, in der katalanischen Stadt leitete sie ihren ersten „Holländer“. 2017 ging sie als Chefdirigentin nach Graz und blieb nur drei Jahre. „Irgendwann kamen immer mehr Anfragen für Gastspiele, das hätte sich mit einer festen Stelle nicht vertragen.“ Reizvoll war dies auch, weil sie Städte kennenlernen durfte, Rom oder Paris, die sie nur aus den Reisekatalogen oder dem Internet kannte.

Der Abschied von Graz war eine Befreiung für die Dirigentin. Studium in der Ukraine und in Dresden, Verträge in Odessa, München und Graz: „Ich dachte mir einfach: Jetzt muss ich meinen Blick weiter öffnen.“ Und der reicht nun bis zu den Bayreuther Festspielen, die musikalisch das aufholen, was sie auf anderen Positionen längst vorleben. Der Grüne Hügel ist seit Festival-Gründung eine Domäne der starken Frauen. Man denke an Cosima Wagner, an Winifred, an Wolfgang Wagners Frau Gudrun und jetzt an die Komponisten-Urenkelin Katharina.

Ein vermintes Themengelände, auch die Kolleginnen Joana Mallwitz oder Simone Young diskutieren aus verständlichen Gründen ungern darüber. Doch so lange die Welt beim Titel „erste Frau“ Schnappatmung bekommt, ist noch viel zu tun. „Man erhält eine Art Nummer“, sagt Oksana Lyniv ganz ohne Groll. „An der Bayerischen Staatsoper war ich die dritte Frau am Pult, in Spanien war ich die erste Frau, die Wagner dirigiert. Aber wir haben ja sowieso keine Wahl, wir wollen einfach dirigieren. Diese Labels kommen aus dem Marketing oder von der Presse.“

Und jetzt wird Oksana Lyniv doch etwas ungehalten, als sie sich erinnert, wie vor einigen Jahren dem BR-Symphonieorchester von Zeitungen vorgehalten wurde, dass in der betreffenden Saison keine Frau gastiert: „Wenn ein Orchester ein gutes Bild abgeben will, braucht es mindestens eine Frau: Ich weiß nicht, ob dieser Gedanke wirklich helfen kann. Solche Forderungen kommen ja nicht von uns. Es kann immer nur um die Qualität gehen, nicht ums Geschlecht.“ Irgendwann, so glaubt sie, wird sich alles normalisieren. In zehn Jahren, schätzt sie. „Und ich hoffe, dass dann auch keiner mehr staunt, wenn eine Dirigentin wie ein Dirigent bezahlt wird.“

Für Bayreuth hilft Oksana Lyniv ohnehin anderes viel mehr. Dank ihrer bemerkenswerten Karriere als Kapellmeisterin, dank ihrer energischen Schlagtechnik, die Straucheleinheiten im Ensemble sofort abfängt, könnte sie sich einreihen in die großen Bayreuther Handwerker. In jene Phalanx, die mit der heiklen Akustik immer besser zurechtkam als sich genialisch gebende Stars. Vor Kurzem hat Oksana Lyniv eine Liste gemacht. 48 Bühnenwerke hat sie inklusive ihrer Zeit als Studentin geleitet oder mitbetreut. Andere ihrer Altersklasse kommen auf bedeutend weniger. Wie man an einem „Holländer“ schraubt, welche Scharnierstellen wichtig sind, wo man zufassen muss, wo man nachgeben kann, das dürfte der Debütantin also mehr als bewusst sein.

Dass ihre Düsseldorfer Wohnung auch noch in einer Straße liegt, die den Titel einer Wagner-Oper trägt, sollte ein gutes Omen sein. Und vielleicht auch jenen Professor beschämen, der ihr seinerzeit beschied: Diese Opern seien zu lang, zu kompliziert, unsingbar, keiner wolle das hören. Und jetzt erste Frau in Bayreuth – eine Genugtuung also? „Ich habe das alles nicht aus Kampfeslust gemacht. Auf der einen Seite freue ich mich. Auf der anderen denke ich mir: Je weiter man geht, desto mehr versteht man, was für ein schwerer Beruf das ist.“ Natürlich könne sie nun sagen, sie habe es den Zweiflern gezeigt, lächelt Oksana Lyniv. „Aber unser Beruf hat eine Besonderheit: Egal, wo man steht – man steht immer noch am Anfang.“

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